ADHS befindet sich immer mehr im Fokus der Forschung wie auch der gesellschaftlichen Debatte. Dennoch bestehen fortlaufend Fehlannahmen rund um die Entwicklungsstörung. Und in vielen Bereichen ist weitere Aufklärung notwendig. Gemeinsam mit zwei Expertinnen beleuchten wir die Schwerpunkte der aktuellen Forschung und zeigen zukunftsgerichtete Perspektiven auf, von moderner Technologie über soziale Aspekte bis hin zu überraschenden Zusammenhängen.
Sabrina Sandfuchs, Psychologin und angehende Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
Christina Pucks, Diplom-Pädagogin und systemische Familientherapeutin
Die wissenschaftliche Forschung zu ADHS hat in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte gemacht, die nicht nur zu einem besseren Verständnis der Entwicklungsstörung beigetragen, sondern auch innovative Therapieansätze eröffnet haben. Gleichzeitig zeigt sich, dass ADHS weit mehr als eine „Kinderkrankheit" ist – die Auswirkungen begleiten Betroffene ein Leben lang und betreffen auch die soziale und psychische Gesundheit.
Auch in der öffentlichen Diskussion findet das Thema zunehmend Aufmerksamkeit. Mit der steigenden medialen Berichterstattung wächst das Bewusstsein in der Gesellschaft, aber auch der Raum für Kontroversen und Missverständnisse: Kritikerinnen und Kritiker sprechen von einer „Überdiagnostizierung“ und einem „Trend”, während Expertinnen und Experten betonen, dass viele Erkrankungen – vor allem von weiblichen Betroffenen – noch immer unerkannt bleiben. Weiter wird ADHS heute zunehmend als eine Ausprägung von Neurodiversität betrachtet. Dieser Ansatz fordert ein Umdenken, hin zu einer stärkeren Inklusion und einem Fokus auf die Stärken der Betroffenen. Aufklärung und Enttabuisierung sind wesentliche Bausteine für eine bessere Unterstützung von Menschen mit ADHS.
Neue Erkenntnisse haben nicht nur die Diagnostik verbessert, sondern auch die Entwicklung wirksamer Behandlungsansätze. In der Forschung soll die Betrachtung und Therapie immer inklusiver, effektiver und individueller gestaltet werden.
Einer dieser zukunftsweisenden Ansätze ist die personalisierte Medizin: Mithilfe genetischer Tests und Biomarkern könnte es bald möglich sein, Therapien genau auf die Bedürfnisse jeder und jedes Einzelnen abzustimmen.
Auch digitale Technologien spielen eine immer größere Rolle. Virtual-Reality-Trainings und Apps, die Kalender- und Erinnerungsfunktionen beinhalten, Psychoedukation für Eltern betreiben und gezielte Übungen zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Impulskontrolle bieten, eröffnen neue Möglichkeiten in der Therapie. „Die ersten digitalen Gesundheitsanwendungen für ADHS befinden sich gerade in der Wirksamkeitsstudie”, so Sabrina Sandfuchs, Psychologin und angehende Psychotherapeutin. „Gegen Depressionen gibt es schon viel digitale Therapie und das erhoffe ich mir auch für ADHS. Gerade in Ergänzung zur Psychotherapie werden solche Apps sehr sinnvoll sein.”
Ein weiteres vielversprechendes Feld ist das Neurofeedback. Hierbei lernen Betroffene, ihre Gehirnaktivität zugunsten einer verbesserten Konzentration und Selbstkontrolle zu regulieren. Bei einigen Kindern zeigt es Erfolge. Die Diplom-Pädagogin und systemische Familientherapeutin Christina Pucks, die selbst auch ADHS hat und Mutter zweier Kinder mit ADHS ist, wünscht sich hier aber noch mehr Aufklärung durch Ärztinnen und Ärzte: „Neurofeedback kann ein hilfreicher Baustein in der Therapie sein, eignet sich aber nicht als alleinige Behandlungsform.” Ein entscheidender Punkt sei hier auch die Umsetzbarkeit im Alltag. „Nur weil ich mich beim Neurofeedback auf Knopfdruck gut konzentrieren kann, heißt das nicht, dass ich es automatisch in der Schule auch schaffe”, erklärt Sabrina Sandfuchs.
Künstliche Intelligenz wird ebenfalls zunehmend integriert: „Es gibt erste KI-gestützte Modelle, die ADHS untersuchen und von denen man sich erhofft, dass man sie in Zukunft auch in der Diagnostik anwenden kann”, sagt Sabrina Sandfuchs. „Aber KI macht Fehler und altert auch, deshalb werden die Modelle einen guten Diagnostiker nicht ersetzen können.” Gleichzeitig arbeitet die Forschung daran, die medikamentöse Therapie zu verbessern, beispielsweise durch neue Wirkstoffe mit noch weniger Nebenwirkungen oder durch innovative Darreichungsformen.
Auf die Frage, welche aktuellen Forschungsinhalte ihr Hoffnung machen, sagt Sabrina Sandfuchs: „ganz klar die Forschung bei Mädchen und Frauen! Im Kindesalter bekommen viel mehr Jungen eine ADHS-Diagnose; ich glaube, das Verhältnis ist drei zu eins. Bei Erwachsenen hingegen ist es ausgeglichen. Das heißt, wir unterschätzen die Zahl wahrscheinlich im Kindesalter. Wir müssen uns also fragen: Passen die aktuellen Diagnosekriterien auch zu weiblichem ADHS oder müssen wir das vielleicht anpassen?” Einige Tests wurden jahrelang bei Frauen und Mädchen gar nicht durchgeführt, weil sich das Gehirn während des weiblichen Zyklus verändert und die Untersuchung zu komplex erschien. „Die Forschung zum Zusammenhang zwischen ADHS und Hormonen steckt noch in den Kinderschuhen. Wir wissen aber, dass da eine Wechselwirkung besteht; die Erfahrung machen wir vor allem bei spätdiagnostizierten Frauen in den Wechseljahren und Mädchen in der Pubertät.”
Auch die genetische Variable werde noch weiter erforscht. ADHS ist unter anderem genetisch veranlagt, sprich, es kann von Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden. „Immer mehr Eltern lassen sich testen. Da wird in den nächsten Jahren einiges passieren, weil wir immer mehr Möglichkeiten haben, zum Beispiel MRT- und EEG-Studien“, so Sabrina Sandfuchs. Fortschritte in der Neurowissenschaft betrachtet die Expertin grundsätzlich als sehr positiv: „Ich bin großer Fan davon, sich mit den neurologischen Zusammenhängen von ADHS zu beschäftigen. So lernen Eltern, was im Gehirn ihrer Kinder passiert, damit sie deren Verhalten besser verstehen können. Das kann man schon mit den Kleinsten machen und ADHS so noch gezielter – und vor allem noch früher – behandeln.”
Um möglichst früh zu erkennen und zu behandeln, ist auch ein weiterer Aspekt zentral: ADHS tritt selten isoliert auf. Die Entwicklungsstörung hat eine der höchstenKomorbiditätsraten, also eine sehr hohe Zahl an Begleiterkrankungen. Neuere Studien zeigen, dass bei zwei Dritteln der Betroffenen auch andere psychische oder physische Erkrankungen auftreten – was die Diagnostik und Behandlung von ADHS erheblich erschweren kann. Zu den häufigsten Begleiterkrankungen gehören Angststörungen, Depressionen und Störungen des Sozialverhaltens sowie Lernstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie.
Die Verbindung zwischen ADHS und anderen Erkrankungen ist komplex und noch nicht vollständig geklärt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass gemeinsame genetische und neurobiologische Mechanismen eine Rolle spielen. So könnten Veränderungen in den Hirnregionen, die für Aufmerksamkeit und Impulsregulation verantwortlich sind, auch die Entwicklung von Angststörungen begünstigen. Und: Die Begleiterkrankungen sind häufig eine Folge von unbehandeltem ADHS.
„ADHSler bekommen bis zum zwölften Lebensjahr 20.000-mal negatives Feedback”, sagt Christina Pucks. Daraus würden häufig Selbstzweifel, Selbstwertprobleme und Leistungsängste erwachsen, aus denen sich wiederum Depressionen, Angststörungen, Borderline oder Essstörungen entwickeln können. Bei Mädchen sei dies noch häufiger der Fall als bei Jungen. „Bei Jungen sind die Folgen außerdem oft Sucht und Selbstmedikation durch Alkohol oder Cannabis. Aufgrund der erhöhten Impulsivität werden manche straffällig, wohl auch, weil sie sich davon einen Dopaminkick erhoffen.”
In manchen Fällen wird ADHS gar nur über Begleiterkrankungen entdeckt, weiß Christina Pucks aus Erfahrung: „Eines meiner Kinder hatte eine Angststörung. Und erst im Zuge der Behandlung dieser Angststörung kam heraus: Es hat auch ADHS.” Es gebe Studien, die zeigen, dass vor allem Mädchen überhaupt erst diagnostiziert werden, weil sie mit einer anderen psychischen Erkrankung zum Arzt gehen. Dies sei also ein Punkt, an dem die moderne Forschung unbedingt verstärkt ansetzen müsse.
Christina Pucks betont, dass viele Menschen überrascht sind, wenn sie neuen Dinge über ADHS lernen. Das hat etwas mit der Stigmatisierung zu tun. „Wenn ich erzähle, dass ich auch ADHS habe, sind viele erst einmal überrascht, weil ich mich ja auf den ersten Blick gar nicht so sehr von neurotypischen Menschen unterscheide.” Das sei ein wichtiger Punkt: „Es gibt immer noch viele Vorurteile. Zudem betreiben Kinder mit ADHS schon früh Masking, sprich sie lernen, ihre Symptome nach außen hin zu überspielen und sich der vermeintlichen sozialen Norm anzupassen.”
Sabrina Sandfuchs ergänzt: „Viele Menschen wären sicher auch überrascht, wenn sie wüssten, wie viele Prominente ADHS haben – weil das so gar nicht der Vorstellung entspricht, ADHSler kämen in der Gesellschaft nicht gut zurecht. Man vermutet zum Beispiel, dass Mozart ADHS hatte, genau wie Thomas Edison. Auch Emma Watson und Justin Bieber und viele weitere Prominente haben ADHS. Das sind Kreative, das sind Entwickler und Erfinder und Menschen, die neue Wege gehen, neu denken, die Menschheit voranbringen."
Auch wenn es von kritischen Stimmen heißt, die Diagnose sei eine Art Trend und trete heute gehäuft auf, stammen die ersten schriftlichen Aufzeichnungen über Symptomatiken bereits aus dem 18. Jahrhundert. „Früher hat es die Menschen gebraucht, die vorreiten, nach Gefahren schauen, mit voller Aufmerksamkeit in einem bestimmten Thema waren”, erläutert Sabrina Sandfuchs. „Nur heute ist die Passung in unser System nicht mehr da, deshalb fällt es so auf. Schauen wir uns das Schulsystem an: Wir dürfen nicht vorausdenken oder schon ein paar Schritte weiter sein. Wir müssen stillsitzen und den Lehrplan einhalten. Dabei sind ADHSler sehr empathisch, wahnsinnig kreativ und können sich extrem gut konzentrieren – sofern es etwas ist, was sie interessiert. Dann können sie stundenlang puzzeln, auch wenn sie vor einer Matheaufgabe zum Beispiel einfach sitzen und nichts tun.” Diese Fähigkeiten würden heute nicht in ihrem vollen Potenzial ausgeschöpft und das werde vor allem im deutschen Bildungssystem zu wenig hinterfragt und verändert.
Ein weiterer Aspekt der modernen ADHS-Forschung, in dem noch viel Aufklärung vonnöten sei, ist der Zusammenhang zwischen ADHS und Ernährung. Noch immer kursieren hier viele Mythen und Falschaussagen: „Zucker löst ADHS aus – das ist Quatsch”, stellt Sabrina Sandfuchs klar. Die im Körper so zentrale Darm-Hirn-Achse sei aber auch bei ADHS essenziell, und es gebe erste Erkenntnisse, dass die Mikronährstoffe im Darm Einfluss auf die Dopaminausschüttung im Gehirn haben können. „Bisher gibt es jedoch nur kleine Studien mit wenigen Teilnehmern, die noch nicht für die Gesamtbevölkerung generalisierbar sind.”
Die Expertinnen raten also dazu, sich bei der Medikation keinesfalls auf diese ersten Erkenntnisse zu stützen. „Ich kenne eine Mutter, die ihrem Kind ausschließlich in Eigenregie Mikronährstoffe verabreicht und die Ernährung umgestellt hat, ohne weitere Therapien und ohne Rücksprache mit einem Arzt”, sagt Christina Pucks. „Das ist gefährlich – vor allem, wenn man ausschließlich Dr. Google oder durch Hersteller gesponserten Studien glaubt.“ Gerade Präparate aus der Drogerie seien häufig für Erwachsene gedacht und für Kinder viel zu hochdosiert. „Viele wissen nicht, dass man auch Vitamine und Mikronährstoffe überdosieren kann”, so Sabrina Sandfuchs. „Also bitte, bitte mit einem Arzt sprechen, Blut abnehmen lassen, gucken, ob wirklich ein Mangel vorliegt – zum Beispiel Omega 3 oder Eisen – und ausschließlich dann substituieren.”
Die ADHS-Forschung hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht – von neuen Therapieansätzen bis hin zu einer geschlechtersensibleren Diagnostik. Doch es bleibt noch viel zu tun: Die gesellschaftliche Wahrnehmung muss weiter geschärft, die Versorgungslage verbessert und die Forschung intensiviert werden. Besonders die Integration neuer Technologien und ein stärkerer Fokus auf das Individuum könnten den Umgang mit ADHS in Zukunft entscheidend verändern – hin zu mehr Akzeptanz und passgenauen Unterstützungsangeboten für Betroffene.
Die Expertinnen freuen sich aber, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit jetzt so sehr in den Vordergrund gerückt ist: „Das ist unbedingt notwendig, denn wenn das Interesse der Öffentlichkeit da ist, dann gibt es auch mehr Förderung und eine bessere Forschung.”