Die Betreuung eines Kindes mit ADHS kann für Familien emotional und physisch belastend sein. Deshalb ist es wichtig, dass die betroffenen Eltern, genau wie die Geschwister, auch auf sich selbst achten. Wir erklären, wo es Unterstützung gibt und warum Selbstfürsorge so wichtig ist.
Sabrina Sandfuchs, Psychologin und angehende Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
Christina Pucks, Diplom-Pädagogin und systemische Familientherapeutin
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) ist eine psychische Störung, die mit einer besonders hohen Belastung für Angehörige einhergeht. Laut einer von der AOK Rheinland/Hamburg beauftragten Studie (Kindergesundheitsatlas) fühlen sich 58 Prozent der Eltern von Kindern mit der Diagnose ADHS stark oder eher stark belastet. Bei den Eltern von Kindern, bei denen ein Verdacht auf ADHS besteht, sind es 44 Prozent.
Diese Mehrfachbelastung spiegelt sich in vielfältigen Sorgen wider – um die Zukunft des Kindes, aber auch um die persönlichen Herausforderungen im Umgang mit der psychischen Störung. Von eigener Überforderung berichten 44 Prozent der Eltern bei einer Diagnose und 41 Prozent der Eltern bei einem Verdacht. Auch Schuldgefühle sind ein häufiges Phänomen bei Eltern von Kindern mit ADHS. Gleichzeitig wissen nicht alle befragten Eltern, an wen sie sich wenden können, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen.
Eltern von Kindern mit ADHS sind oft einem noch höheren Stresslevel ausgesetzt als andere Eltern. Ganz entscheidend ist es deshalb, aktiv Selbstfürsorge zu betreiben und sich ein gutes und stabiles Hilfsnetzwerk aufzubauen. Dazu gehört neben professioneller Unterstützung und dem Austausch mit anderen Betroffen auch das direkte Umfeld. „Sich in anstrengenden Zeiten ein Helfersystem aufzubauen, um Hilfe zu bitten und sie auch annehmen zu können, ist so wichtig – sei es durch Oma und Opa oder durch Freunde”, weiß Sabrina Sandfuchs, Psychologin und angehende Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. „Auch mal sagen zu können: Ich mache jetzt was für mich, damit ich wieder Kraft habe. Das gilt für jede familiäre Situation, aber die Herausforderungen in Familien, in denen ein Kind ADHS hat, sind noch größer.“
Klare Absprachen können dabei helfen, Zeitfenster für sich selbst zu schaffen. So lässt sich Selbstfürsorge auch in einen vollen Alltag integrieren: zum Beispiel durch feste Zeiten für Sport oder ein Hobby oder einfach nur kurze Ruhepausen. „Bei Selbstfürsorge denken viele immer, oh ich geh ins Spa”, sagt die Diplom-Pädagogin und systemische Familientherapeutin Christina Pucks. „Aber Selbstfürsorge kann auch heißen: Ich nehme mir die Zeit, in der mein Kind in der Therapie ist, und trinke einen Kaffee.“
Selbstfürsorge ist für Eltern kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Sie ist nicht nur entscheidend für die eigene Gesundheit, sondern hat auch direkte Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes. Kinder profitieren von Eltern, die ausgeglichen und emotional stabil sind. Sabrina Sandfuchs sagt: „Nur wenn mein Glas voll ist, kann ich mein Kind entsprechend unterstützen.“ Neben Unterstützung im Alltag ist es für Eltern deshalb auch entscheidend, die eigene Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit, gezielt zu stärken. Kleine Schritte im Alltag helfen bereits dabei: Das Erkennen eigener Stärken, der Fokus auf lösungsorientiertes Denken und das Akzeptieren von Herausforderungen als Teil des Lebens sind hilfreiche Ansätze – und Achtsamkeit ist dabei ein wertvolles Werkzeug.
Auch beim Umgang mit Schuldgefühlen ist ein achtsamer Umgang mit sich selbst für Eltern ratsam. Professionelle Beratung kann dabei unterstützen, Schuldgefühle zu hinterfragen und loszulassen und sich in Selbstmitgefühl zu üben. Ein zentraler Punkt ist, dass Eltern lernen, sich selbst zu verzeihen. Wie in jeder Erziehung darf auch hier Perfektionismus nicht der Maßstab sein – kleine Schritte und Fortschritte sind oft entscheidend.
Alle Eltern sollten wissen, dass ADHS eine neurobiologische Veranlagung ist und kein Versagen der Erziehung. „Ich kann mein Kind mit meiner Erziehung unterstützen, aber ich werde damit kein ADHS auslösen“, sagt Sabrina Sandfuchs. „Das heißt, Eltern sind niemals schuld an der ADHS-Erkrankung ihres Kindes.” Auch dann nicht, wenn sie es vererbt haben. „Und auch in dem Fall kann man an den Schuldgefühlen arbeiten“. „Das Tolle als Elternteil mit ADHS ist, dass ich mein sogar Kind besser verstehen und dann gemeinsam mit ihm Möglichkeiten entdecken kann“, ergänzt Christina Pucks. „Ich kann seine größte Unterstützung werden.“
Hier nennt die Sabrina Sandfuchs ein berührendes Beispiel aus der Familienberatung: „Eine Mutter sagte einmal zu mir: Ich ‚liebe mein Kind nicht.‘ Das Kind war im Jugendalter und bei beiden bestand schon jahrelang unentdecktes ADHS. Sie waren in Konflikten und in einem Bestrafungsteufelskreis gefangen. Diese Mutter war aber gleichzeitig die größte Kämpferin für ihr Kind. Und schließlich hat sie festgestellt: ‚Ich habe mein Kind immer geliebt, wir sind nur immer aneinandergeraten, weil wir beide so impulsiv und uns einfach viel zu ähnlich sind.‘ Dieser Moment, als sie sich auf die Arbeit eingelassen und schließlich auch die Diagnose erhalten haben, hat vieles verändert.“
Beratung, dass gerade diese Kinder später oft selbst Probleme bekommen, zum Beispiel eine Depression entwickeln oder mit selbstverletzendem Verhalten reagieren.
„Geschwister, die sehr angepasst sind, bleiben oft still und stecken viel ein, weil sie merken, dass der Fokus auf dem Kind mit der besonderen Herausforderung liegt”, erklärt Sabrina Sandfuchs. „Doch gerade diese Kinder dürfen nicht vergessen werden.“ Um die Geschwister zu unterstützen, können Eltern etwa bewusst Zeit für gemeinsame Aktivitäten und positive Erlebnisse einplanen, in denen ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen.
„Ich habe auch schon erlebt, dass Geschwisterkinder neidisch waren auf das Kind, das ADHS hat“, so Christina Pucks. „Weil die Eltern sich so viel Mühe geben, es zu loben und zu bestärken. Ich kann nur empfehlen, das Gleiche auch mit dem Geschwisterkind zu machen. Mit ihm die gleichen Ressourcenübungen machen wie mit dem anderen Kind – ein Stärkenplakat malen oder mit Mutmachkarten arbeiten zum Beispiel. Zumindest sollte man es dem Geschwisterkind immer auch anbieten und es entscheiden lassen, ob es Lust darauf hat.“
Sobald das Geschwisterkind ein gewisses Alter erreicht hat, ist es zudem ratsam, das gemeinsame Gespräch zu suchen. Offene Kommunikation und altersgerechte Erklärungen zu ADHS fördern das Verständnis und entlasten emotionale Spannungen. „Eltern können dem Geschwisterkind die Situation erklären, es regelmäßig fragen, wie es ihm geht, was gerade seine Herausforderungen sind und warum es sich so verhält, wie es das tut. Sie sollten offen miteinander sprechen, Verständnis zeigen und ihm signalisieren: Wenn dir alles zu viel wird oder du sauer auf deine Schwester oder deinen Bruder bist, darfst du dich auch mal bei mir auskotzen.“
Familien von Kindern mit ADHS stehen heute eine Vielzahl an lokalen und digitalen Ressourcen zur Verfügung, die dabei helfen können, den Alltag zu bewältigen. Erziehungsberatungsstellen, Sozialdienste oder auch spezielle ADHS-Zentren bieten umfassende Unterstützung und erste Orientierung. ADHS-Coaching-Apps oder Tools zur Organisation des Familienalltags ermöglichen eine flexible und niederschwellige Hilfe von zu Hause aus.
Digitale Plattformen wie der ADHS-Elterntrainer bieten darüber hinaus speziell auf die Bedürfnisse von Familien zugeschnittene Informationen, Anleitungen und Austauschmöglichkeiten. Viele dieser Tools kombinieren praktische Tipps mit psychologischen Strategien.
„Das Wichtigste ist, sich Informationen, Hilfe und Aufklärung zu suchen, mit anderen betroffenen Eltern in den Austausch zu gehen und sich zusammenzutun”, sagt Sabrina Sandfuchs. Neben Familien im eigenen Umfeld bieten Selbsthilfegruppen oder digitale Foren den Eltern die Möglichkeit, Tipps und Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig zu unterstützen. Diese Gemeinschaft schafft nicht nur Entlastung, sondern auch das Gefühl, nicht allein mit den Herausforderungen zu sein. „Den Eltern hilft es, eine Person oder eine Anlaufstelle zu haben, bei der ich mich immer mal melden kann, wenn ich gerade nicht weiterweiß”, sagt Christina Pucks. „Eine Erziehungsberatungsstelle, einen Guide oder eine Vertrauensperson.“
Eltern-Kind-Kuren haben sich als wertvolles Unterstützungsangebot bewährt. Sie geben Familien Raum, Abstand vom Alltag zu gewinnen und gleichzeitig in einem geschützten Rahmen Strategien für den Umgang mit ADHS zu entwickeln. Auch hier können Eltern neben gezielter therapeutischer Begleitung andere Familien in einer ähnlichen Situation kennenlernen und sich austauschen.
Auch in den Bereichen Psychologie oder Pädagogik finden Eltern Unterstützung, sei es durch Diagnostik, Beratungsgespräche oder verhaltenstherapeutische Ansätze. Das hilft bei individuellen Strategien für die Familie und verschafft emotionale Entlastung. Zusätzlich gibt es finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten wie Pflegegeld oder Fördermittel für spezielle Therapien, die Eltern über die Krankenkasse oder das Jugendamt beantragen können.
„Es gibt sehr unterschiedliche Ansätze, die alle gut sein können. Eltern sollten unbedingt Verschiedenes ausprobieren und das finden, was zu ihrer Familie am besten passt und ihnen ein gutes Gefühl gibt”, rät Sabrina Sandfuchs. „Und wer nicht zufrieden ist, hat das Recht, sich eine Zweitmeinung einzuholen. Ja, die Wartezeit ist oft lang, aber es lohnt sich. Nur vielleicht nicht sofort alle Bücher kaufen, die es rund um ADHS gibt, oder jede einzelne Stelle aufsuchen. Von zu vielen Meinungen lassen sich viele verunsichern. Wichtig ist, da auch zu sagen: Mein Weg ist okay.“
Über Therapie- und Beratungsangebote hinaus kann es Familien – sowohl den betroffenen Kindern als auch ihren Eltern und Geschwistern – helfen, klare Strukturen und Rituale zu schaffen, um eine positive Familiendynamik aufrechtzuerhalten. Sie helfen nicht nur den Kindern selbst, sich im Alltag besser zurechtzufinden, sondern entlasten zeitgleich auch ihre Familie, indem der Alltag planbarer und vorhersehbarer wird und somit weniger Konfliktpotenzial bietet.
Selbstdefinierte Werte und Regeln für die ganze Familie können eine deutliche Entlastung sein. „Ich hatte in der Beratung eine Familie, deren Kind sehr viel gezappelt hat, vor allem auch beim gemeinsamen Essen. Viele Kinder mit ADHS machen das, um ihre innere Unruhe loszuwerden“, erzählt Christina Pucks. „Die Familie wünschte sich aber, dass es damit aufhörte, und ich fragte, warum ihnen das so wichtig sei. Sie haben daraufhin ausprobiert, es einfach zuzulassen. Und es war so schön, als der Vater später sagte, seitdem sei das Abendessen viel entspannter. Sie hätten nun nicht mehr diese hohen Ansprüche und würden sich auf die wirklich wichtigen Regeln in der Familie fokussieren.“ Die Expertin findet, dass Familien ruhig einmal hinterfragen sollten, welche Normen und Werte sie in ihrem Alltag und Zusammenleben wirklich wichtig finden. „Wir müssen alle zusammen ruhig am Tisch sitzen und essen – wer sagt das? Vielleicht handhaben wir das anders, weil das zu unserer Familie einfach nicht passt. Setzen wir uns doch einmal zusammen und schauen, was uns eigentlich wichtig ist. Und dann stellen wir wenige, aber dafür wirklich wichtige Familienregeln auf, an die wir uns alle halten möchten.“
Besonders die betroffenen Kinder selbst würden viel Wert auf gewisse Regeln und Werte legen und sollten sich hier unbedingt aktiv einbringen. Hielten sich alle Familienmitglieder daran, könne es den Alltag und letztlich die Beziehung zueinander stärken.